DVD-Kritik: „Amer“ ist nicht Kommerz, sondern Kunst

Vielleicht muss es so aussehen, wie in „Amer“, wenn aus Trash Kunst wird. Hélène Cattet und Bruno Forzani haben sich den den Giallo, ein in den siebziger Jahren beim Publikum beliebtes und kommerziell entsprechend erfolgreiches Subgenre des italienischen Kriminal- und Horrorfilm, das inzwischen von einigen Regisseuren gefeiert und von der Kritik rehabilitiert (wenigstens teilweise) wurde, als stilistische Vorlage für ihr Schaffen genommen. Denn neben ihrem Spielfilm „Amer“ gibt es auf der DVD noch vier, schon ältere Kurzfilme, die stumme Vorstudien und auch Variationen von „Amer“ sind. Immer geht es um Sex und Gewalt, möglichst explizit in den den Andeutungen, aber möglichst abstrakt in der Ausführung und immer mit einem Soundtrack, der Geräusche und Musik zu einer beunruhigenden Klangcollage verbindet.

Aber während die Kurzfilme meistens eine Aneinanderreihung von Bildserien sind, ist „Amer“ ein Spielfilm, der viel Raum für Assoziationen lässt und mit einem Minimum an Dialogen auskommt. Immer geht es um das Feiern des Augenblicks und dem Hervorrufen von bestimmten Gefühlen.

Das ist in dem ersten Teil von „Amer“, der strukturell aus drei sehr locker miteinander verknüpften Kurzfilmen mit der gleichen Protagonistin in verschiedenen Lebensphasen besteht, noch spannend. Immerhin versucht ein Mädchen damit umzugehen, dass in dem Herrenhaus der tote Großvater aufgebahrt ist, ihre Eltern sich lautstark streiten, die Großmutter durch das Haus schleicht und alles etwas seltsam ist. Sex, Tod und Gewalt liegen wie ein Pesthauch über den Bildern, die anscheinend direkt aus einem Siebziger-Jahre-Italo-Horrorfilm kommen.

Aber schnell wird deutlich, dass es hier nur um Stimmungen geht; was ja nicht so schlimm ist. Immerhin hat Dario Argento, der „Amer“ unübersehbar in jeder Sekunde beeinflusste, sein gesamtes Œuvre darauf aufgebaut.

Aber während Argento und seine Kollegen immer noch eine, wenn auch abstruse Story erzählte, sind Hélène Cattet und Bruno Forzani nur noch an den Stimmungen interessiert, die sie teilweise über Minuten ausdehnen. Wenn in dem zweiten Segment, das eher an einen der soften Italo-Sexfilme der siebziger Jahre (Sommer, Sonne, viel Gegenlicht, leichte Kleidung, aber die Schönheit leckt sich nur die Lippen und öffnet den obersten Knopf ihres Kleides) erinnert, die Protagonistin, die sich gerade ihres Frau-Seins bewusst wird, eine gefühlte halbe Stunde an einer Handvoll, sie lüstern anstarrender Motorradfahrer vorbeiparadiert, dann ist das so übertrieben wie in einem Michael-Bay-Film, der ebenfalls den Augenblick bis zum Erbrechen zelebriert.

Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass „Amer“ Kunst ist, der mit der Form des Giallos spielt und besser als einzeln präsentierte Kurzfilme oder in einer Kunstausstellung aufgehoben wäre. Als Spielfilm langweilt der surreale Experimentalfilm nur zunehmend.

Amer – Ein Alptraum aus Angst und Begierde (Amer, Frankreich/Belgien 2009)

Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani

Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani

mit Marie Bos, Delphine Brual, Cassandra Foret, Charlotte Eugène-Guibbaud, Harry Cleven

DVD

Koch Media

Bild: 2,35:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Französisch (Dolby Digital 5.1, DTS)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Vier Kurzfilme von Cattet und Forzani (Catharsis, Chambre Jaune, L’étrange portrait de dame en jaune, La fin de notre amour), Kinotrailer, Wendecover

Länge: 88 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Eskalierende Träume: Interview mit Hélène Cattet und Bruno Forzani (23. August 2010)

Blutbengel über „Amer“ (12. Januar 2012)

 

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