Neu im Kino/Filmkritik: Michael Haneke denkt über die „Liebe“ nach

Georg und Anna sind Musikprofessoren und nicht mehr die Jüngsten. Sie genießen schon seit einigen Jahren ihren Ruhestand und besuchen gelegentlich Konzerte von ehemaligen Zöglingen. Als Anna eines Tages einen Schlaganfall hat, ruft Georg den Notarzt – und es beginnt der alltägliche Horror des Alters. Das langsame Sterben eben.

Denn Anna kommt aus dem Krankenhaus zurück und Georg versucht ihr in ihrer Wohnung zu helfen. So gut er kann. Aber sie kann sich immer weniger alleine bewegen. Das Sprechen wird auch immer schwieriger. Musizieren kann sie schon lange nicht mehr. Sie ist jetzt in einer Lage, in die sie nie kommen wollte.

Liebe“ erzählt wie einige andere Filme, die in den letzten Jahren im Kino liefen, vom Alt-Werden und den Problemen des Alt-Werdens.

Aber weil es ein Film von Michael Haneke ist, erzählt er nicht von rüstigen Rentnern, die Jungspunden zeigen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehören, oder vom wiedererwachten Liebesglück. Er erzählt vom Alltag, in dem einfach nur noch auf das letzte große Ereignis, den Tod, gewartet wird. Und das in der Detailgenauigkeit, Konsequenz und objektiv-beobachtenden Erzählhaltung, wie wir sie aus seinen früheren Werken, wie „Bennys Video“, „Funny Games“ (von dem er sogar ein US-Remake drehte, das bei uns weitgehend ignoriert wurde) und seinem Überraschungserfolg „Das weiße Band“, für den er, unter anderem, in Cannes die Goldene Palme und den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film erhielt, kennen. Für „Liebe“ erhielt er vor wenigen Monaten die Goldene Palme. Weitere Preise werden – dafür muss man kein Prophet sein – folgen.

Die Hauptrollen übernahmen Jean-Louis Trintignant (Jahrgang 1930), nach einer mehrjährigen Leinwandabstinenz, und Emmanuelle Riva (Jahrgang 1927), die in „Hiroshima, mon Amour“ von Alain Resnais, „Eva und der Priester“ von Jean-Pierre Melville und „Drei Farben: Blau“ von Krzysztof Kieslowski mitspielte und die bei uns nicht so bekannt ist, und sie spielen das alte Ehepaar beängstigend glaubwürdig; vor allem Emmanuelle Riva, die den körperlichen Verfall von Anna spielt, kann nicht genug gelobt werden.

Und weil es ein Film von Michael Haneke ist, geht es in „Liebe“ auch um Einsamkeit, Verlust, Schuld und Sühne. Denn gerade weil Georg seine Frau liebt, ruft er den Notarzt; gerade weil er sie liebt, pflegt er sie und setzt sich über ihren Wunsch zu Sterben hinweg. Sie will vielleicht nur deshalb sterben, weil sie ihn liebt und ihm keine Belastung sein will. Und die Geschichte steuert ohne Umwege und Atempausen auf ihr tödliches Ende, das bereits in den ersten Bildern gezeigt wird, zu. Diesen Weg schildert Haneke mit einer solchen bitteren Konsequenz, als ob er mit jedem Filmmeter beweisen möchte, dass Alt-Werden nichts für Feiglinge ist und dass es im Alter vielleicht noch Liebe, aber keine Freude mehr gibt.

Weil wir alle Alt-Werden, kann man sich dem formvollendet inszeniertem Film, seinem Thema und seiner Aussage wesentlich schwerer als Hanekes anderen Filmen entziehen. In „Funny Games“ konnte man sich sagen, dass man kein Haus am See habe. „Das weiße Band“ spielt in der Vergangenheit. „Bennys Video“ war ja ein Extrembeispiel von Jugendgewalt und dem schädlichen Einfluss von Videos.

In „Liebe“ haben wir nur den nackten Alltag eines seit Ewigkeiten verheirateten Ehepaares, das in einer großen Mietwohnung lebt und das unregelmäßig von ihrer glücklich verheirateten Tochter (Isabelle Huppert) besucht wird.

Liebe (Amour, Frankreich/Deutschland/Österreich 2012)

Regie: Michael Haneke

Drehbuch: Michael Haneke

mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco

Länge: 125 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Liebe“

Metacritic über „Liebe“

Rotten Tomatoes über „Liebe“

Wikipedia über „Liebe“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Thomas Assheuers Interviewbuch “Nahaufnahme: Michael Haneke” (2010)

Michael Haneke in der Kriminalakte

2 Responses to Neu im Kino/Filmkritik: Michael Haneke denkt über die „Liebe“ nach

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